Ein Abend mit Christine Lubkoll und Christian Begemann, moderiert von Christian Gohlke
Vor 250 Jahren erschien Johann Wolfgang Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers. Ihn einen ‚Erfolgsroman‘ zu nennen, wäre stark untertrieben, denn selten hat ein Buch derartige kulturelle Explosionen ausgelöst – fanatische Identifikationen und wütende Abwehr. Jahrzehnte, ja mehr als zwei Jahrhunderte hat diese Wirkung angehalten. Napoleon hat den Verfasser des Werther besucht, Romane und Opern wurden in dessen Gefolge geschrieben. Heute ist es eher still geworden um den jungen Mann, der sich aus Liebeskummer erschießt. Warum ist das so? Und warum konnten sich Generationen von Leserinnen und Lesern so für Goethes Roman begeistern? Vielleicht kann man sagen, dass das Buch einen Nerv seiner Epoche traf, weil es einige ganz neue kulturelle Sachverhalte auf eine ganz neue literarische Weise verhandelt: Da ist in erster Linie eine radikale moderne Subjektivität und fast schon pathologische Selbstbezüglichkeit, die sich im Medium des Briefs scheinbar unmittelbar ausspricht; da ist weiter ein neues Verhältnis zur Natur als Raum des Rückzugs, der Selbstheilung, aber auch der Spiegelung des Ichs; da sind das Verhältnis der Geschlechter und die historischen Konzepte von Liebe und Ehe; da ist das Aufbegehren des gebildeten bürgerlichen Subjekts gegen die Ungerechtigkeit und Arroganz der höfischen Gesellschaft; und da ist nicht zuletzt die Problematik des Selbstmords als Freiheit, über das eigene Leben zu verfügen. Man muss es bedauern, dass Werther aus dem Blickfeld der Gegenwart zu verschwinden droht. In ihm ließe sich noch mancherlei gerade auch über unsere eigene Epoche erkennen.
Prof. Dr. Christine Lubkoll, geboren 1956 in Bremen, war Professorin für Neuere deutsche Literatur an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie forscht zur Literaturgeschichte der Sattelzeit, zum Thema Literatur und Musik sowie zu Literatur und Ethik. Ihre Kafka-Beiträge widmen sich u.a. dem Roman “Der Process” und der Erzählung “Josefine die Sängerin”. Zuletzt erschien ein Band über Franz Kafkas literarisches Umfeld in Prag. 14 Porträts von Oskar Baum bis Franz Werfel (Metzler 2024, zs. mit H. Neumeyer).
Prof. Dr. Christian Begemann, bis 2020 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der LMU München. Arbeitsschwerpunkte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert